HOME ֍ AKTUELLES ֍ UNSER TEAM ֍ UNSER WEG ֍ SERVICE ֍ LINKS |
Japan im Herbst 2011 Erwartungsvoll trete ich 12
Stunden später aus der Flughafenhalle und fahre
mit dem Bus nach Tokyo. In der Metropole geht
das Leben seinen normalen Gang. Nichts weist im
Moment auf eine drohende oder existente Gefahr
hin, keinerlei Nervosität unter den Menschen auf
der Straße ist zu bemerken. Mit großer
Dankbarkeit werde ich von Vertretern der
Gemeinde Tokyo-Fuchu und Freunden empfangen. Ich
komme zu einem Zeitpunkt, wo viele Ausländer
längst geflüchtet sind – jetzt, wo nach der
Dreifach-Katastrophe auch noch die japanischen
Firmen in Thailand vom Hochwasser weggeschwemmt
werden und der hohe Yen-Kurs die Wirtschaft
zusätzlich schwächt. „Das Unglück ist auf allen
Ebenen über uns hereingebrochen“, stöhnt ein
alter Freund. Die Regierung habe beim
Krisenmanagement versagt und es gäbe noch immer
keine zentral gelenkten Maßnahmen, um die
riesigen Schuttmengen zu beseitigen, wird offen
kritisiert. Auf meiner Fahrt entlang der Küste
der Präfektur Miyagi sehe ich tatsächlich Berge
von Autowracks und
Bauschutt, gestrandete Schiffe, Häuser-
und Fabriksruinen. Tokyo hat als erste Präfektur
angeboten Schutt aufzunehmen. Die erste Ladung
landete Anfang November medienwirksam in der
Hauptstadt. Doch in vielen Präfekturen
bombardieren die Bewohnerinnen die lokalen
Stellen mit Anrufen, weil sie Angst vor dem
möglicherweise kontaminierten Müll haben.
In der Stadt Ishinomaki, ca.
50 km nordöstlich von Sendai, zieht sich eine
Spur der Verwüstung durch das Küstenviertel. Die
Uhr auf dem vom Schlamm befreiten
Volksschulgebäude zeigt 14h48, den Zeitpunkt des
Bebens. Eine Linie an der Decke des Erdgeschoßes
weist auf die Höhe des Tsunami hin. Als ich noch
einige verdreckte Schultaschen entdecke, muss
ich geschockt das Gebäude verlassen. Eine Gruppe
ehrenamtlicher Helferinnen stapft an mir vorbei.
Die meist jungen Leute ziehen sich um und
verlassen in Bussen die Stadt. Die Koordination
der vielen Freiwilligen klappt oft nicht, da in
vielen Fällen niemand für sie zuständig ist,
erfahre ich. Letztlich funktioniert
Eigeninitiative am besten. Etwa die
Hälfte der Betriebe im Katastrophengebiet ist
zerstört. Diese wieder aufzubauen, ist
Regierungssache. Die Menschen brauchen eine
Perspektive. Schon jetzt steigt die
Selbstmordrate in den betroffenen Gebieten,
neben der wirtschaftlichen wird die
psychologische Hilfe wird immer wichtiger. Ich hatte es mir nicht
vorstellen können. Doch Shinjuku liegt abends
tatsächlich im Halbdunkel, wie es mir
beschrieben worden war. Als eines der
pulsierenden Zentren Tokyos war es mir nachts
als stets von bunten Neonreklamen erhelltes
Viertel in Erinnerung.
Jetzt ist auch die Hauptstadt – sowohl
die Unternehmen als auch die Bevölkerung -
aufgerufen Strom zu sparen. Tatsächlich lag die
Energieersparnis im vergangenen Sommer bei 15%.
Die Kapazitäten der Elektrizitätswerke
und damit die Verordnungen zur Stromnutzung sind
regional unterschiedlich. Ziel ist es derzeit,
keines der momentan still stehenden AKWs –
bemerkenswerte 80% - wieder hochzufahren. „Zum
Glück ist der heurige Herbst sehr warm“,
fürchten Freunde bereits den kommenden Winter,
wenn in den Haushalten und Büros die
elektrischen Heizgeräte in Betrieb genommen
werden.
„Wir müssen unsere Lebensweise neu
überdenken. Die Frage ist, wie wir von unserem
Luxus wegkommen,“ dermaßen selbstkritische
Kommentare sind keine Einzelfälle mehr. Ein Lebensmitteleinkauf in
Tokyo wird zu einer zeit- und kräfteraubenden
Unternehmung. Auf meine Frage nach ihrem Angebot
aus Fukushima und Ibaragi erklärt mir die
Gemüsehändlerin, ihre Ware sei
selbstverständlich überprüft. Ja, die Kunden
würden auch fragen. Ob sie kaufen oder nicht,
müsse letztlich ihr „Herz“ entscheiden.
Tatsächlich gibt es in Supermärkten neben
Produkten aus Fukushima Aufrufe: „Mit Ihrem
Einkauf unterstützen Sie das Krisengebiet“.
Vor allem für Mütter mit heranwachsenden
Kindern ist das eine Ungeheuerlichkeit. Oft
findet man die Herkunftsbezeichnung des Gemüses
nicht neben der Preistafel, sondern
kleingedruckt auf der Packung. Bei Fisch ist die
gesetzliche Lage so, dass der Fangort oder der
Hafen, an dem der Fisch an Land gebracht wird,
aufscheint. Für Konsumenten, die Sorge haben,
einen kontaminierten Fisch zu kaufen, ist es
damit schwierig festzustellen, aus welcher
Region der Fisch genau stammt. In Fachkreisen
gelten allerdings nur wenige Fischarten als von
der radioaktiven Verstrahlung betroffen.
Die öffentlich-rechtliche
TV-Anstalt NHK, die für ihre seriösen Recherchen
bekannt ist, schickt regelmäßig Reporterinnen
nach Fukushima, weil die Touristen auch an
höchst beliebten Fremdenverkehrsorten
ausbleiben. Mütter mit Kleinkindern werden dort
interviewt. Es gehe ihnen gut und – „bitte
kommen Sie doch wieder zu uns“! Lokale
Spezialitäten werden präsentiert und vor
laufender Kamera vom jeweiligen Reporter
verkostet: Günstig und gut!
Anfang November wurde erstmals ein System
vorgestellt, dass den Boden in Fukushima und
anderen betroffenen Gebieten dekontaminieren
soll. Die Firma Toshiba, die in der japanischen
Atomenergie eine wichtige Rolle spielt, hat ein
bewegliches System erfunden, das bei Versuchen
in Fukushima den Cäsiumgehalt im Boden auf unter
ein Zehntel des ursprünglichen Wertes verringert
hat. Dabei wird das Cäsium mittels saurer
Wasserlösung ausgewaschen, das kontaminierte
Wasser anschließend aufbereitet und wieder
verwendet. Das System soll im Frühjahr 2012
regulär in Betrieb gehen. Ein langer Weg steht noch bevor. Wohin wird Japan gehen? |
ZURÜCK ZUR CHRONIK (JAHRESÜBERSICHT) |