HOME        ֍        AKTUELLES        ֍        UNSER TEAM        ֍        UNSER WEG        ֍        SERVICE        ֍        LINKS

Japan im Herbst 2011. Die Direktmaschine der Austrian Airlines nach Tokyo ist halb leer. Ich sitze neben einer Wiener Geologin, die ein Billigangebot nützt, um erstmals für vier Tage nach Japan zu reisen. Im Lauf der Unterhaltung gesteht sie, dass sie die Erdbebenwerte der letzten zwei Wochen studiert habe und sich nicht nördlich von Tokyo aufhalten wolle. Ich spreche einen Österreicher im Flugzeug an, der seit vielen Jahren Geschäftsverbindungen nach Japan hat. Es wäre für ihn überhaupt keine Frage gewesen, nach Tokyo zu reisen. Man müsse den Menschen Mut machen, für Alternativenergien zu kämpfen.

Erwartungsvoll trete ich 12 Stunden später aus der Flughafenhalle und fahre mit dem Bus nach Tokyo. In der Metropole geht das Leben seinen normalen Gang. Nichts weist im Moment auf eine drohende oder existente Gefahr hin, keinerlei Nervosität unter den Menschen auf der Straße ist zu bemerken. Mit großer Dankbarkeit werde ich von Vertretern der Gemeinde Tokyo-Fuchu und Freunden empfangen. Ich komme zu einem Zeitpunkt, wo viele Ausländer längst geflüchtet sind – jetzt, wo nach der Dreifach-Katastrophe auch noch die japanischen Firmen in Thailand vom Hochwasser weggeschwemmt werden und der hohe Yen-Kurs die Wirtschaft zusätzlich schwächt. „Das Unglück ist auf allen Ebenen über uns hereingebrochen“, stöhnt ein alter Freund. Die extreme Krise hat die Menschen verändert. Ich erlebe Unsicherheit, Unbehagen, Frustration. Aber ich nehme auch die ungeheure Solidarität mit den Opfern wahr. Nach 28 Jahren Japan Erfahrung muss ich diesmal nicht zwischen den Zeilen lesen sondern bin ohne lange Fragen stellen zu müssen mit emotionalen Schilderungen der Menschen konfrontiert. Das ist neu für mich.

Die Regierung habe beim Krisenmanagement versagt und es gäbe noch immer keine zentral gelenkten Maßnahmen, um die riesigen Schuttmengen zu beseitigen, wird offen kritisiert. Auf meiner Fahrt entlang der Küste der Präfektur Miyagi sehe ich tatsächlich Berge von Autowracks und  Bauschutt, gestrandete Schiffe, Häuser- und Fabriksruinen. Tokyo hat als erste Präfektur angeboten Schutt aufzunehmen. Die erste Ladung landete Anfang November medienwirksam in der Hauptstadt. Doch in vielen Präfekturen bombardieren die Bewohnerinnen die lokalen Stellen mit Anrufen, weil sie Angst vor dem möglicherweise kontaminierten Müll haben.                                                                       

In der Stadt Ishinomaki, ca. 50 km nordöstlich von Sendai, zieht sich eine Spur der Verwüstung durch das Küstenviertel. Die Uhr auf dem vom Schlamm befreiten Volksschulgebäude zeigt 14h48, den Zeitpunkt des Bebens. Eine Linie an der Decke des Erdgeschoßes weist auf die Höhe des Tsunami hin. Als ich noch einige verdreckte Schultaschen entdecke, muss ich geschockt das Gebäude verlassen. Eine Gruppe ehrenamtlicher Helferinnen stapft an mir vorbei. Die meist jungen Leute ziehen sich um und verlassen in Bussen die Stadt. Die Koordination der vielen Freiwilligen klappt oft nicht, da in vielen Fällen niemand für sie zuständig ist, erfahre ich. Letztlich funktioniert  Eigeninitiative am besten. Etwa die Hälfte der Betriebe im Katastrophengebiet ist zerstört. Diese wieder aufzubauen, ist Regierungssache. Die Menschen brauchen eine Perspektive. Schon jetzt steigt die Selbstmordrate in den betroffenen Gebieten, neben der wirtschaftlichen wird die psychologische Hilfe wird immer wichtiger.

Ich hatte es mir nicht vorstellen können. Doch Shinjuku liegt abends tatsächlich im Halbdunkel, wie es mir beschrieben worden war. Als eines der pulsierenden Zentren Tokyos war es mir nachts als stets von bunten Neonreklamen erhelltes Viertel in Erinnerung.  Jetzt ist auch die Hauptstadt – sowohl die Unternehmen als auch die Bevölkerung - aufgerufen Strom zu sparen. Tatsächlich lag die Energieersparnis im vergangenen Sommer bei 15%.  Die Kapazitäten der Elektrizitätswerke und damit die Verordnungen zur Stromnutzung sind regional unterschiedlich. Ziel ist es derzeit, keines der momentan still stehenden AKWs – bemerkenswerte 80% - wieder hochzufahren. „Zum Glück ist der heurige Herbst sehr warm“, fürchten Freunde bereits den kommenden Winter, wenn in den Haushalten und Büros die elektrischen Heizgeräte in Betrieb genommen werden.  „Wir müssen unsere Lebensweise neu überdenken. Die Frage ist, wie wir von unserem Luxus wegkommen,“ dermaßen selbstkritische Kommentare sind keine Einzelfälle mehr.

Ein Lebensmitteleinkauf in Tokyo wird zu einer zeit- und kräfteraubenden Unternehmung. Auf meine Frage nach ihrem Angebot aus Fukushima und Ibaragi erklärt mir die  Gemüsehändlerin, ihre Ware sei selbstverständlich überprüft. Ja, die Kunden würden auch fragen. Ob sie kaufen oder nicht, müsse letztlich ihr „Herz“ entscheiden. Tatsächlich gibt es in Supermärkten neben Produkten aus Fukushima Aufrufe: „Mit Ihrem Einkauf unterstützen Sie das Krisengebiet“.  Vor allem für Mütter mit heranwachsenden Kindern ist das eine Ungeheuerlichkeit. Oft findet man die Herkunftsbezeichnung des Gemüses nicht neben der Preistafel, sondern kleingedruckt auf der Packung. Bei Fisch ist die gesetzliche Lage so, dass der Fangort oder der Hafen, an dem der Fisch an Land gebracht wird, aufscheint. Für Konsumenten, die Sorge haben, einen kontaminierten Fisch zu kaufen, ist es damit schwierig festzustellen, aus welcher Region der Fisch genau stammt. In Fachkreisen gelten allerdings nur wenige Fischarten als von der radioaktiven Verstrahlung betroffen.                                                                              

Die öffentlich-rechtliche TV-Anstalt NHK, die für ihre seriösen Recherchen bekannt ist, schickt regelmäßig Reporterinnen nach Fukushima, weil die Touristen auch an höchst beliebten Fremdenverkehrsorten ausbleiben. Mütter mit Kleinkindern werden dort interviewt. Es gehe ihnen gut und – „bitte kommen Sie doch wieder zu uns“! Lokale Spezialitäten werden präsentiert und vor laufender Kamera vom jeweiligen Reporter verkostet: Günstig und gut!  Anfang November wurde erstmals ein System vorgestellt, dass den Boden in Fukushima und anderen betroffenen Gebieten dekontaminieren soll. Die Firma Toshiba, die in der japanischen Atomenergie eine wichtige Rolle spielt, hat ein bewegliches System erfunden, das bei Versuchen in Fukushima den Cäsiumgehalt im Boden auf unter ein Zehntel des ursprünglichen Wertes verringert hat. Dabei wird das Cäsium mittels saurer Wasserlösung ausgewaschen, das kontaminierte Wasser anschließend aufbereitet und wieder verwendet. Das System soll im Frühjahr 2012 regulär in Betrieb gehen.

Ein langer Weg steht noch bevor. Wohin wird Japan gehen?

ZURÜCK ZUR CHRONIK (JAHRESÜBERSICHT)